"OUI" oder "NON": das ist hier die Frage...

Der heutige Tag begann wie ein durchschnittlicher Tag hier im Projekt. 05:45 Uhr aufstehen, anschließend im Slalom den Pfützen ausweichen, schließlich die Straße unter Lebensgefahr überqueren bis wir sieben Minuten später die Kirche erreicht haben. Nach der Messe frühstücken Magdalena und ich wie gewohnt mit den anderen Paters und ich bereite vor der Englischstunde noch kurz meine Schimpftirade vor, die sich meine 35 energiegeladenen Schützlinge anhören müssen. Ich beende meinen Unterricht pünktlich zu Mittag und mache mich auf den Weg nach Hause. Kaum auf der Straße angekommen, fallen mir sofort junge Männer auf, die durch die Straße ziehend Pappkartons mit „NON“ in die Höhe halten. Mir ist sofort bewusst, dass ich hier in eine sehr politisch angeheizte Angelegenheit geraten bin. Denn mittlerweile reichen meine Französisch-Kenntnisse schon so weit, dass ich mich mit dem ein oder andern über Politik und das bevorstehende Referendum unterhalten kann. Am 25. Oktober 2015 wird hier nämlich abgestimmt, ob die Konstitution verändert werden darf oder nicht. Die Verfassung sieht es nämlich nicht vor, dass der Präsident älter als 70 ist und eine dritte Amtszeit beginnt. Der aktuelle Präsident Sassou Nguesso ist 72 Jahre alt, seit 1997 durchgehend Staatschef und bereits in seiner zweiten Amtsperiode. Wenn das Volk also am 25. Oktober „OUI“ wählt, wird die Verfassung umgeschrieben und damit indirekt eine dritte Amtsperiode des Präsidenten eingeleitet, soweit ich das richtig verstanden habe. Ein „NON“ würde eine Beibehaltung der bisherigen Konstitution von 2002 bedeuten.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf und ein wenig aufgeregt drehe ich wieder um und gehe in die Pfarre. Dort wartet Magda auf mich und sie weiß schon mehr: Heute finden in unserer Stadt Demonstrationen und Protestmärsche statt, die gegen eine Verfassungsänderung sind. Die Köchin, die zufällig in der Nähe ist, ergänzt: „Demonstranten aus dem ganzen Land treffen sich heute hier um gemeinsam zum Rathaus zu ziehen und „NON“ zu schreien. Der Präsident hat den Demonstranten verboten mit dem Zug oder dem Flugzeug anzureisen und die meisten sind daher mit dem Auto oder zu Fuß gekommen. Alle Märkte, Geschäfte und Stände sind heute geschlossen da jeder Angst vor gewaltsamen Unruhen hat.“ Sie ist jedoch davon überzeugt, dass der Präsident so oder so wiedergewählt wird und geht daher nicht wählen. Tja. Aus dem geplanten Strandausflug mit unseren Freunden wird wohl heute nichts mehr, vor allem weil wir von allen Seiten gewarnt wurden die Pfarre heute nicht zu verlassen.

Magdalena und ich können es trotzdem nicht zulassen, so ein historisches Ereignis in der Pfarre zu verschlafen ohne zuzuschauen. Wir gehen also ein paar Schritte aus dem Gelände hinaus und befinden uns mitten auf der „Rue de l’Independance“, der längsten Straße Pointe-Noires. Und schon wieder sehen wir vor allem Männer die Fahnen mit „NON“ schwenken. Wir beobachten auch vollgepackte Busse, die alle Richtung „Meeting“ aufbrechen, wie die Demonstration vorm Rathaus genannt wird.

Der Präsident selbst ist natürlich nicht in der Stadt. Vor einer Woche war er hier und hat das neue Flughafengebäude eröffnet. Während seinem Aufenthalt letzte Woche waren viele Läden und Märkte geschlossen weil sich damals schon die Einwohner Pointe-Noires vor Aufruhr gefürchtet hatten. Die Stadt selbst war natürlich bunt geschmückt. Überall hängen große Banner mit „Wir wählen einstimmig JA führ unseren Staatschef Herrn Sassou Nguesso“ oder ähnlichen Parolen. Man sah damals auch Leute, die T-Shirts trugen auf denen groß „OUI“ stand. Böse Zungen hier behaupten, dass sie Geld dafür bekamen.

Heute ist alles anders. Immer mehr Männer machen sich vor unserer Tür auf dem Weg zur Demo während wir mit den Patres Mittagessen gehen. Natürlich sind die politischen Bewegungen auch hier das Tischgesprächsthema Nummer Eins. Anstatt zu diskutieren, wer „der Herr sei mit euch“ in den meisten Sprachen sagen kann, wird heute politisiert und über mögliche Szenarien der kongolesischen Politik gesprochen. Einen Bürgerkrieg hier in Pointe-Noire? Dazu wird es nicht kommen, sind sich alle einig. Wir leben nämlich in der wirtschaftlichen Hauptstadt des Landes und daher sind alle daran interessiert, dass hier der Alltag so abläuft wie immer. Gemeinsam am Tisch mit den Patres – eine bunte Mischung aus Italienern, Kongolesen aus beiden Republiken und einem Gabunesen – hört man jedoch auch ziemlich abenteuerliche Geschichten. Der Präsident soll ja angeblich die katholischen Bischöfe mit verschiedenen Geschenken in das „OUI“-Lager eingekauft haben. Manche behaupten gar, dass er die Verfassung sowieso im Geheimen schon umgeschrieben hat. Wieder einer hat gehört, dass der Präsident als Weißer verkleidet Ärztebetrüger im Krankenhaus entlarvt hat.

Auf jeden Fall dürfte es keine starke Opposition geben, die im Stande wäre den Präsidenten auf die Finger zu schauen. Es gebe - laut Patres - auch keinen ernsthaften Gegenkandidaten bei der geplanten Präsidentschaftswahl im Juni 2016. Während unserer Unterhaltung hört man immer wieder von Weitem Sirenengeheul, Hupen und schreiende Menschen. Ein Pater berichtet, dass es im Stadtzentrum sogar schon einen Toten gebe. Ein anderer widersprach und meinte, es seien nur mehrere Personen verletzt und ein Polizeiauto zerstört. Wieder ein anderer vermutet, dass sich unter den Demonstranten pro-präsidentische Unruhestifter verstecken die dem Präsidenten Angriffsfläche bieten aufgrund ihrer Gewalttätigkeit. Der nächste wirft wiederum ein, dass wahrscheinlich alle Protestierenden von der Opposition angeheuert wurden. Außerdem werde der Präsident rund um den 25. Oktober Tribunale ins Leben rufen um die Opposition zu schwächen. Aber so ganz sicher weiß man hier nichts.

Während dieses Gesprächs muss ich einen ziemlich bestürzten Eindruck gemacht haben, denn ich werde prompt gefragt ob ich leicht jetzt Angst habe. Ich bin echt stolz auf mich, dass ich in perfektem Munukutuba („Munu ke na boma vé“) diese Frage verneinen kann, aber ein mulmiges Gefühl im Bauch bleibt. Auch die Patres machen uns klar, dass wir heute die Pfarre nicht verlassen dürfen und in nächster Zeit (bis zum Referendum) allgemein sehr vorsichtig sein sollen. Ich nutze diesen freien Nachmittag um mich ein wenig in den Medien schlauzumachen über die politische Situation hier im Kongo. Die Patres haben mir abgeraten hier zu sehr den Zeitungen zu vertrauen. Es gebe ein sehr pro-präsidentisches Blatt und natürlich das genaue Gegenteil aber die Wahrheit liege meist in der Mitte. Der französische Radiosender hat bereits vor ein paar Tagen über das Referendum berichtet (und übrigens auch über die Wien-Wahlen in Österreich) aber so ganz genau konnte ich dem Kommentator nicht folgen.

Am Nachmittag beschließen Magda und ich gemeinsam mit einem Pater nochmal hinauszuschauen. Wir kommen genau rechtzeitig um tausende junge Männer zu beobachten, wie sie singend und Fahne schwenkend von dem Meeting zurückmarschieren. Dieses Ereignis werde ich glaub ich mein Leben lang nicht vergessen. Laut grollende Männerchore, die die Kongolesische Nationalhymne schmettern. Schaulustige, die am Wegrand stehen und sich spontan den aufbegehrenden Menschenmassen anschließen. Immer wieder Militär- und Polizeifahrzeuge, die sich ihren Weg durch die langsam vorwärtsströmende Menge bahnen. Spontan umgedichtete Lieder auf Munukutuba und Französisch, die sich momentan alle gegen den Präsidenten richten. Eilig zusammengebastelte Plakate und flüchtig geschriebene Parolen auf Kartons, die laut schreiend in die Höhe gehalten werden. Und keiner dieser Demonstranten trägt eine Waffe oder wird grob gewalttätig.

Dabei darf man den ungeheuren Mut dieser Menschen nicht vergessen. Bei uns ist es eine Selbstverständlichkeit jederzeit frei seine Meinung zu äußern und offen über Politik zu sprechen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die Menschen hier sehr politikverdrossen sind, zum größten Teil nicht zur Wahl gehen und eigentlich nichts sehnlicher wünschen als Frieden und Freiheit. Und genau für diese Werte geht man hier eben auch unter großem Risiko auf die Barrikaden.

 


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